AM63 – Brief an Walter Gropius
New York, zwischen Sonntag, 26. und Donnerstag, 30. März 1911


[Postskriptum:] Schreibe Paris. Poste Générale Made/moiselle\

Nacht ist es: Nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. Etc[.] – – – —

Ja – mein , wär ich ein Dichter, so würde ich heute so zu Dir reden – meine Seele ist voll von Dir. Alles Herrliche[,] das wir gemeinsam erlebt haben, steigt auf in mir – hellglänzend – die tiefe Noblesse alles dessen, was wir zusammen gelebt, das Urreine[,]

es kommt wieder über mich – ich liebe Dich. Wollte Gott, Du wärest noch der Meine, so, wie ich es meine – – ach – es würde die Zeit kommen – in der unser Glück sich erfüllen würde. – Ich habe eine unendliche Sehnsucht nach Deiner Liebe – nach Deinen starken Armen, die mich fühlen gelehrt haben – nach Dir — der mich sehen


gelehrt hat. —

Denkst Du an all das noch? An Wien – die Stephanskirche – an Paris – an – die Stunde der Liebe und Hingebung in Deinem Zimmer in Paris – aber alles so im Rausch, so im Flug. — – –

Ich lebe seit 1 1/2 Monaten kaum. s Krankheit schwebt auf und ab – wir werden, wenn es halbwegs geht, am 8[.] April fahren – von Paris

an die Rivièra – in ein Sanatorium, – und so lange dort bleiben, bis es besser geht. —

Es ist eine harte Zeit der Prüfung für uns alle. –

Alle unsere Pläne sind zu Nichte . . . . . Bauen werden wir fürs Erste nicht – da[,] übrigens war Plan so schlecht – dass ich mich wundere[,] dass er Dir gefallen hat [. . .] [. . .] [. . .]


Ich finde[,] das Herauswachsen eines Hauses aus der „Gegend“ ist ein Blödsinn. Natürlich werde ich auf den Semmering kein chinesisches Thürmchenhaus hinsetzen, aber wir sind keine Bauern – und ich will lieber mehr Badezimmer, statt eines großen Daches haben – wir sind verwöhnte Allerweltswohner – der öster.[reichische] Bauer ist uns eher zuwider als sympatisch –. Ich liebe

den hiesigen mexikanischen Colonialstyl viel mehr, als alle unsere Villchen – die zwischen Pallast [!] und Bauernhof herum \hin & her/ pendeln. – Die Engländer u[.] Amer.[ikaner] sind die einzigen, die eine Idee haben – sicher auch Ihr Deutschen[,] aber bei uns \in Wien/ wird alles zur Phrase – unecht – affectirt, verlogen.

So – wo ist nun mein springender Brunnen hin? – Walter, wenn mein Kommen Dir ein Erschrecken ist, so sag’ es mir ehrlich!

[Postskriptum:] Mademoiselle Poste Generale poste restante


Apparat

Überlieferung

, , , , , .

Quellenbeschreibung

1 DBl. (4 b. S.) u. 1 Bl. (2 b. S.) – Briefpapier.

Druck

Erstveröffentlichung.

Korrespondenzstellen

keine.

Datierung

Der vorliegende Brief AM61 kann durch die folgenden Aussagen datiert werden: G.[ustav]s Krankheit schwebt auf und ab – wir werden, wenn es halbwegs geht, am 8[.] April fahren – von Paris an die Rivièra – in ein Sanatorium.

Noch am 25. März 1911 hatte AM geschrieben: Wir können nicht am 30ten [März] […] reisen (AM62). Mit dem vorliegenden Brief konnte AM WG also das neue Abreisedatum, 8[.] April, frühestens am 26. März mitgeteilt haben. Zu Gesundheitszustand empfingen österreichische Zeitungen regelmäßig Telegramme aus New York, bis jene am 31. März von der geplanten Reise nach Europa zum „8. April“ berichteten (s. etwa , S. 5 und , S. 2). Es ist davon auszugehen, dass AM mindestens einen Tag vor dieser Meldung das Abreisedatum abgestimmt hatte. Der vorliegende Brief AM63 wurde daher zwischen dem 26. und 30. März 1911 geschrieben.

Übertragung/Mitarbeit


(Bettina Schuster)
(Fabian Müller)


A

Paris verließ mit und Familie (sowie und ), wie angekündigt, am 8[.] April New York auf dem Schnelldampfer SS Amerika (bestätigt etwa durch: „Am 8. April kehrt er [= ] nach Europa zurück“, , S. 5) und kam am 16. April in Cherbourg an, um von dort aus mit der Bahn („wir hatten unser Coupé bestellt“, , S. 244) weiter nach Paris zu fahren mit Ankunft am Ostermontag, den 17. April (, S. 9) um „fünf Uhr früh“ (, S. 245).

B

Nacht ist es: Nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. – wörtlich zitierter Beginn des „Nachtliedes“ aus dem zweiten Teil von (, S. 136 Z. 1f.). überlieferte Bibliothek beinhaltet einige Bände der 19 Bände umfassenden sogenannten Großoktavausgabe (1894–1913) aus dem Leipziger C. G. Naumann-Verlag. Der entsprechende sechste Band fehlt allerdings (, S. 116–120).

C

Ursprünglich: nach.

D

An Wien – die Stephanskirche – an Paris – s. Themenkommentar: Die getrennten Anreisen zur Überfahrt nach New York 1910.

E

Rivièra – Eine an Paris anschließende Reise an die Côte d’Azur ist nicht belegt.

F

Hoffmanns Plan – s. AMo7 vom 12. Februar 1911: Seidenpapier mit dem Hochparterre.

G

Drei unleserlich durchgestrichene Wörter, Anzahl der Buchstaben nicht erkennbar.

H

hiesigen mexikanischen Colonialstyl – heute unter dem architekturhistorischen Fachbegriff Spanish Colonial Revival bekannt.

I

Mit Bleistift den Buchstaben V und erstes l nachgezogen bzw. verdeutlicht.